Veranstaltung: | LDK Jena 2024 |
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Tagesordnungspunkt: | 9. Sonstige Anträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesdelegiertenkonferenz Jena 02. bis 04. Februar 2024 |
Beschlossen am: | 03.02.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
THÜRINGER WEG: Fächergruppe „Ethik – Philosophie – Religion“ an Thüringer Schulen
Beschlusstext
THÜRINGER WEG: Fächergruppe „Ethik – Philosophie – Religion“ an Thüringer
Schulen
Präambel
Artikel 22 der Thüringer Verfassung:
„Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, selbstständiges Denken und Handeln,
Achtung vor der Würde des Menschen und Toleranz gegenüber der Überzeugung
anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer
Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und
die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und die
Umwelt zu fördern.“
Veranlassung
Unsere Gesellschaft ist vor allem in den letzten 30 Jahren deutlich pluraler
geworden. Offenheit und Respekt für unterschiedliche Lebensentwürfe und
Weltsichten – nicht-religiöse und religiöse – sind spätestens in der modernen,
pluralen globalisierten Welt eine unverzichtbare Voraussetzung für Freiheit,
sozialen Frieden und Gerechtigkeit.
Auf Grund der weltweiten Krisen kommt es zu einer vermehrten Migration aus
Regionen unterschiedlichster kultureller Prägung und von Menschen
verschiedenster Religionszugehörigkeiten. Daneben nimmt der Anteil
konfessionsfreier Menschen in der Gesellschaft weiter zu, unter anderem durch
die hohe Zahl von Kirchenaustritten in Deutschland.
Es vergrößert sich insbesondere unter jungen Menschen die weltanschauliche
Vielfalt.
Die unterschiedlichen Weltanschauungen und Werteorientierungen, Kulturen und
Religionen in unserer Gesellschaft dürfen nicht zu mehr Unverständnis und
Unversöhnlichkeit in der direkten Konfrontation, aber auch in den Echokammern
der sozialen Netzwerke führen.
Austausch und Reflexion über die eigenen und die fremden Grundüberzeugungen sind
notwendig, um Verständnis füreinander und wechselseitigen Respekt zu fördern.
Deshalb brauchen Dialog und Begegnung mehr Raum und Zeit in der Schule, wozu
auch die Fächer Ethik und Religion einen stärkeren Beitrag leisten können und
sollen.
Grundansatz „Thüringer Weg“
Wir wollen die genannten Einzelfächer zu einer integrativen Fächergruppe[1]
„Ethik – Philosophie – Religion“ weiterentwickeln. In dieser sollen phasenweise
einerseits die eigenen weltanschaulich-ethischen bzw. religiösen Identitäten im
Mittelpunkt stehen und anderseits soll ein dialogisches Lernen im Miteinander
und in der Begegnung, also im Klassenverband entstehen.
Eine neue Fächergruppe Ethik – Philosophie – Religion, wie unten genauer
beschrieben, eröffnet gemeinsame Lernräume, die es in den bisher getrennten
Lerngruppen Religion und Ethik so nicht gibt. Entsprechende Lernarrangements der
Fächergruppe können Suchbewegungen der Schüler*innen nach Sinn und Werten
unterstützen und dabei helfen, ethische Handlungsoptionen zu reflektieren und
auszuwählen.
Es ist für unsere Gesellschaft wünschenswert, dass die Schüler*innen gerade in
Bezug auf Grundfragen menschlicher Existenz in einer qualifiziert-dialogischen
Gestaltung des Unterrichts gemeinsam entsprechende Dialogkompetenzen und
Pluralitätsfähigkeiten erwerben und eigene weltanschaulich-ethische und
religiöse Positionsbestimmungen reflektieren, festigen, hinterfragen,
weiterentwickeln oder auch neu bestimmen können. In diesem Sinne ist ein solcher
gemeinsamer Unterricht ein Beitrag zur reflektierten Identitätsfindung der
Schüler*innen.
Gleichzeitig ist es sinnvoll zu reflektieren, wie Religionen, Weltanschauungen
und die sie tragenden Institutionen wie Kirchen und andere
Weltanschauungsgemeinschaften gesellschaftlich wirksam werden, und zu erkennen,
dass kollektive und gesamtgesellschaftliche Diskurse über Werte und
Weltanschauungen auf die individuellen Positionierungen zurückwirken.
Modularer Aufbau
Um dieses Ziel zu erreichen, möchten wir den Unterricht in den Fächern Ethik und
Religion um ein Dialogmodul für alle Schüler*innen ergänzen und alle Module
inhaltlich und organisatorisch eng miteinander verzahnen.
Alle Schüler*innen besuchen einerseits das Modul Ethik bzw. einer Religion und
andererseits im Klassenverband gemeinsam das neue Dialogmodul.
Wir schlagen vor, dass das Dialogmodul und die Ethik- bzw. Religionsmodule nicht
zeitlich parallel unterrichtet werden, sondern nacheinander im Laufe eines
Schuljahres, z.B. in einem vierteljährlichen Wechsel.
Sinnvollerweise sollten die Schüler*innen im ersten und dritten Quartal eines
Schuljahres zwei Wochenstunden ein Modul Religion bzw. Ethik besuchen sowie im
zweiten und vierten Quartal im Klassenverband das Dialogmodul (oder umgekehrt).
Für andere didaktisch und organisatorisch sinnvolle Regelungen sind wir
natürlich offen.
Der weiter bestehende konfessionelle Unterricht in den Modulen der verschiedenen
Religionen wahrt nach Art. 7.3 GG und Art.25 der Thüringer Landesverfassung die
positive Religionsfreiheit, da das Recht auf positionelle Bildung in religiösen
Fragen bestehen bleibt. Die Religionsgemeinschaften bestätigen die Inhalte und
Lehrkräfte der jeweiligen Religionsmodule wie bisher.
Dialogmodul Verantwortung
Der Freistaat Thüringen führt das Dialogmodul in eigener Verantwortung ein.
Es handelt sich dabei nicht um einen Unterricht nach Art. 7.3 GG, d.h. die
Lehrpläne und Lehrer*innen werden nicht durch die Religionsgemeinschaften
bestätigt. Der gemeinsame Unterricht ist insofern unabhängig und neutral.
Die inhaltliche und organisatorische Gesamtverantwortung für das neue
Dialogmodul trägt das Kultusministerium. Nur so ist ein Unterricht, der in Bezug
auf Grundsätze und Lehrinhalte gleichermaßen von den Religionsgemeinschaften
sowie den säkularen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen
akzeptiert und unterstützt wird, organisierbar. Nur so ist eine Umsetzung kurz-
bis mittelfristig realistisch
Säkulare Organisationen, die Religionsgemeinschaften und andere
gesellschaftliche Akteure, für die das Fach relevant ist, sollen bei der
Entwicklung des Curriculums angehört werden. Ihre Anregungen können
berücksichtigt werden, soweit sie nicht den Grundsätzen dieses Konzeptes oder
sich gegenseitig widersprechen.
Selbstverständlich werden alle relevanten Fakultäten bzw. akademische Fächer in
Thüringen (bzw. in der Bundesrepublik) bei der Vorbereitung eingebunden.
Mithilfe einer qualifizierten Weiterbildung sollen die Ethik- und
Religionslehrkräfte (evtl. auch Lehrer*innen aus benachbarten Disziplinen) dazu
befähigt werden, das neue Dialogmodul zu unterrichten.
Mit Einführung des „Thüringer Weges“ an den Schulen muss dann das neue Fach in
die Lehrerausbildung integriert werden. Einzelheiten entscheiden die jeweiligen
Fakultäten.
Dialogmodul inhaltlich
Einerseits geht es um die Vermittlung eines grundlegenden Wissens zu Ethik,
Philosophie und den verschiedenen Religionen sowie um die Reflexion von Werten
für die persönliche Lebensgestaltung, für Gruppen und die Gesellschaft als
Ganzes. Dabei sollen Themen aus den Ethik- und Religionsmodulen aufgegriffen
werden.
Andererseits soll eine weitgehende Dialogorientierung dazu beitragen, dass die
in unserer Gesellschaft so wichtige Pluralismus- und Dialogfähigkeit frühzeitig
erworben wird.
Durch die Arbeit an gemeinsamen Projekten und in ausführlichen Diskussionsphasen
können die Schüler*innen angemessene Begegnungs- und Verständigungsformen
einüben.
Das Ziel ist die Erarbeitung einer tragfähigen Dialogkompetenz und einer
konstruktiven Kritikfähigkeit, damit die Schüler*innen eine eigenständige Werte-
und Religions-mündigkeit erreichen.[2]
Die jungen Menschen sollen die Möglichkeit haben, religiöses und nichtreligiöses
Leben anschaulich zu erfahren und sich dabei über Gemeinsamkeiten und
Unterschiede auszutauschen.
Deshalb wird der Besuch von authentischen Religionsgemeinschaften sowie
säkularen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen empfohlen.
Wichtig ist, dass die Schüler*innen die breite Vielfalt an Weltanschauungen und
Religionen kennenlernen.
Die konkrete Aufteilung der Lehrinhalte innerhalb der Fächergruppe wollen wir
den Fachleuten überlassen.
Die Ausgestaltung der inhaltlichen und organisatorischen Verzahnung der Module
untereinander ist Aufgabe der schulinternen Fachkonferenzen der Fächergruppe.
Sie sollen dabei durch Rahmenvorgaben, Beispiellösungen und ein angemessenes
Zeitbudget unterstützt werden.
Diskussionsstand innerhalb der Grünen auf Landes- und Bundesebene
In den letzten Jahren haben die Landesarbeitsgemeinschaften „Christ*innen“ und
„Säkularisierung“ von Bündnis 90 / Die Grünen in Thüringen gemeinsam diesen
viel-versprechend erscheinenden Weg entwickelt. Ein komprimierter Textbaustein
zu diesem Arbeitsstand konnte in das Wahlprogramm 2021 aufgenommen werden.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft „Christ*innen“ hat am 22.10.2022 ein
Positionspapier „Fächergruppe Religion – Philosophie für alle“ verabschiedet.
Dieses Papier spricht sich für eine ähnliche Zielstellung aus.
Fußnoten:
[1] Im Jahr 2006 hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in einer
Denkschrift „Religiöse Orientierung gewinnen“ zu der Idee einer Fächergruppe
ausgeführt: „Deshalb gibt es keine Alternative dazu, beide Aufgaben zugleich
wahrzunehmen, die Unterstützung von religiöser [und weltanschaulicher]
Identitätsbildung und von Pluralitätsfähigkeit. Identität und Verständigung
bezeichnen einen Prozess, der als Zusammenhang wahrgenommen werden muss." (S.45,
ebd.)
[2]„Die Sichtweise bzw. der Glauben der anderen ist (in der Regel) nicht falsch
oder gefährlich, sondern eine wichtige und erlaubte andere Perspektive auf das
Leben. Kritik an der eigenen Überzeugung, angemessen formuliert und begründet,
ist ausdrücklich erlaubt (und erwünscht).“ (Quelle: Evelyn Finger, Die ZEIT,
12.01.17)