| Veranstaltung: | LDK Erfurt 2025 |
|---|---|
| Tagesordnungspunkt: | 10 Sonstige Anträge |
| Status: | Beschluss |
| Beschluss durch: | Landesdelegiertenkonferenz |
| Beschlossen am: | 25.10.2025 |
| Antragshistorie: | Version 2 |
Menschenrechtsbasierte Migrationspolitik anstelle von Diskriminierung, gegen jeden Leistungs- und Teilhabeausschluss
Beschlusstext
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen für menschenrechtsbasierte Politik – auch in
Thüringen
In allen Thüringer Landkreisen und der Stadt Gera wurden seit 2023/24
unterschiedlichste sogenannte Bezahlkartenmodelle für Geflüchtete
eingeführt.Hinter dem Vorwand der Praktikabilität, versteckt sich der Versuch
vieler Landräte und der aktuellen Landesregierung, einen Aufenthalt Geflüchteter
in Thüringen möglichst unattraktiv zu gestalten, um deren Zahl zu verringern.
Damit entfernt sich Thüringen immer weiter von einer Migrationspolitik, die auf
humanitären und menschenrechtlichen Grundsätzen fußt. Die Einführung von
Bezahlkarten ist in vielen Landkreisen hierfür nur ein Beispiel.
Bündnis 90/Die Grünen Thüringen setzen sich stattdessen für eine
menschenrechtsbasierte Migrationspolitik ein. Wir wollen Integration
ermöglichen, Teilhabe sichern und Geflüchteten eine echte Perspektive bieten.
Deshalb fordern wir:
- Eine bedarfsgerechte und verlässliche Finanzierung von
Integrationsprojekten, Beratung und Sprach- und Integrationsangeboten
mindestens auf dem Niveau von 2025.
- Ein Integrations- und Teilhabegesetz in Thüringen, das
Integrationsmaßnahmen verlässlich absichert.
- Keine Einführungspflicht bei der Bezahlkarte und Möglichkeit zur
vollumfänglichen Abhebung in bar
- Einen diskriminierungsfrei und verwaltungsarm gestalteten Leistungsbezug,
der vollumfänglich Bargeldzugang ermöglicht - dabei haben Basiskonten
Vorrang; die derzeitige Ausgestaltung eines Bezahlkartensystems lehnen wir
ab.
- Die Existenzsicherung aller Menschen und ein Ende des
Leistungsausschlusses für Dublin-Verfahrens-Betroffene.
Den Abbau von Hürden und die Stärkung der Zugänge zu Bildung und Arbeit,
um Integration zu ermöglichen.
- Aufbau einer oder mehrerer menschenwürdiger Erstaufnahmeeinrichtungen mit
geeigneter Infrastruktur und Anbindung sowie Zugang zu Beratung, Betreuung
und medizinischer Unterstützung.
- Die Beendigung des Betriebs der Abschiebehaftanstalt und die Umwidmung der
freiwerdenden Mittel in Integrationsförderung und psychosoziale
Versorgung.
Am 4.Juni 2025 unterzeichneten der Thüringische Landkreistag und der Gemeinde-
und Städtebund Thüringen sowie das zuständige Ministerium TMJMV eine
Rahmenvereinbarung über die Einführung und den Betrieb einer Landesbezahlkarte
für Empfänger*innen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) in Thüringen. Dieser Rahmenvereinbarung traten in der Folge auch die
bis dato nicht beteiligten Städte Erfurt und Weimar bei. Stadtratsbeschlüsse
dazu gab es nicht, die Oberbürgermeister begründeten dies mit dem Handeln im
übertragenen Wirkungskreis.
Die Rahmenvereinbarung beruft sich auf die zwischen Bundes- und
Landesregierungen geeinten Mindeststandards und beinhaltet darüber hinaus die
Regelungen, dass die Nutzung der künftigen Landesbezahlkarte auf die
Bundesrepublik beschränkt ist, die Karte als Bargeldersatz mit eingeschränktem
Anwendungsbereich gilt, Onlinekäufe und Money Transfer Services ebenso
ausgeschlossen sind, wie bestimmte Händlergruppen und Branchen und
Bargeldabhebungen monatlich auf 50 Euro pro Leistungsempfänger*in beschränkt
werden.Bei der Höhe der abhebbaren Summen, haben die Kommunen einen gewissen
Ermessensspielraum. Die Möglichkeit die gesamte Summe abheben zu können, ist
durch das Land jedoch nicht vorgesehen. Ausnahmen soll es für
Aufwandsentschädigungen für sog. Arbeitsgelegenheiten geben, diese können
entweder bar ausgezahlt oder ggf. auch über die Karte abgehoben werden.
Die seit Ende 2023 eingesetzten Bezahlkarten benachteiligen Geflüchtete massiv
und behindern ihre gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe.
Ohne Bargeld bleiben elementare Lebensbereiche verschlossen. So ist
beispielsweise Bargeld häufig Voraussetzung für die Nutzung von Flohmärkten und
Gebrauchtmarktplattformen sowie öffentlichen Toiletten, den Fahrkartenkauf im
ÖPNV, die Teilnahme an Schulaktivitäten, die Bezahlung eines anwaltlichen
Beratungsscheins oder eines Sprachkurses und vielem mehr. Andererseits sind auch
Überweisungen häufig Voraussetzung für Dauerschuldverträge wie Telefonverträge,
sodass den Betroffenen wesentliche Kommunikationskanäle fehlen. Alle diese
Möglichkeiten müssen auch für Geflüchtete weiterhin offenstehen. Hinzu kommt,
dass in der Praxis schon jetzt Geflüchteten vielfach verwehrt wird, mit ihren
Karten bspw. Gutscheine zu erwerben.
In den 1990er-Jahren haben wir erlebt, wohin Einschränkungen wie
Gutscheinsysteme führen. Sie haben Menschen ausgegrenzt, entmündigt und
Integration erschwert. Deshalb wurden sie abgeschafft. Das war ein bewusster
Schritt hin zu Teilhabe und Menschenwürde. Heute droht sich diese Geschichte zu
wiederholen. Wenn wir Geflüchteten wieder den Zugang zu Bargeld verwehren,
schaffen wir genau jene Hürden neu, die wir damals aus guten Gründen überwunden
haben.
Vor diesem Hintergrund sehen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen die landesweite
Einführung der diskriminierenden Bezahlkarte – womöglich sogar verpflichtend auf
Grundlage einer Verwaltungsvorschrift des Landes – mit großer Sorge. Wir sind
weiter davon überzeugt, dass Basiskonten für alle eine sinnvolle und
diskriminierungsfreie Alternative sind, die zudem den Verwaltungsaufwand in den
Kommunen drastisch senken würden.Deswegen haben sie Vorrang. Dort wo dennoch
Bezahlkarten eingeführt werden, setzen wir uns dafür ein, dass diese
diskriminierungsfrei und verwaltungsarm sind. Dies beinhaltet beispielsweise die
uneingeschränkte Möglichkeit Bargeld abzuheben, ein Erscheinungsbild, dass sich
nicht von herkömmlichen EC-Karten unterscheidet und die Möglichkeit, den eigenen
Kontostand jederzeit einzusehen.
Die Einführung von Bezahlkarten für Geflüchtete steht sinnbildlich für eine
Entwicklung, die über diese Gruppe hinausreicht. Äußerungen von
Ministerpräsident Voigt (CDU) und Innenminister Maier (SPD) sowie Vorschläge aus
mehreren Landkreisen, Bezahlkarten oder Leistungskürzungen auch auf
Bürgergeldempfänger*innen auszuweiten, zeigen eine gefährliche Tendenz.Dabei
lehren uns Jahrzehnte deutscher Migrationsgeschichte, wie Integration gelingt:
durch Offenheit, Zugang zu Arbeit, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe. Wer
marginalisierte Gruppen gegeneinander ausspielt, schwächt den gesellschaftlichen
Zusammenhalt und wiederholt alte Fehler. Statt Ausgrenzung braucht es Vertrauen,
Unterstützung und gemeinsame Verantwortung, um die Herausforderungen der Zukunft
gemeinsam, solidarisch und erfolgreich meistern zu können.
Noch drastischer trifft es Menschen im „Dublin Verfahren“, die auch in Thüringen
von jeglichen Sozialleistungen ausgeschlossen werden, wenn ihre Abschiebung
angeordnet wurde und sie keine Duldung erhalten. Das bedeutet in der Konsequenz,
dass Betroffene – darunter auch Familien mit minderjährigen Kindern – nur noch
maximal 2 Wochen Überbrückungsleistungen für das physische Existenzminimum
erhalten und danach der komplette Leistungsausschluss inklusive Obdachlosigkeit
und Ausschluss von medizinischer Versorgung droht.
Eine solche Praxis nimmt menschliches Leid bewusst in Kauf und führt zu einer
systematischen Verelendung, die Menschen in die Illegalität drängt, anstatt
ihnen Perspektiven und Wege zur Integration zu eröffnen. In Verbindung mit einer
möglichen Verlängerung der Dublin-Frist verschärft sich diese Situation
zusätzlich.
Nicht nur wir sind davon überzeugt: Dieser drastische Leistungsausschluss ist
mit dem Verfassungs- und Europarecht nicht vereinbar. Auch die
Wohlfahrtsverbände kritisieren die Bundes- und Landesregierung und fordern die
zuständige Ministerin, Beate Meißner, auf, die in Thüringen gängige
grundrechtsverletzende Anwendung von § 1 Absatz 4 AsylbLG aufzugeben. Gemeinsam
mit den Sozialverbänden fordern wir stattdessen eine verfassungskonforme
Regelung, die sicherstellt, dass kein Mensch ohne Zugang zu existenzsichernden
Leistungen bleibt.
Erst kürzlich hat die Landesregierung ihren Entwurf für den Doppelhaushalt
2026/2027 beschlossen. Dieser sieht drastische Kürzungen gerade auch für den
Bereich der Integration vor. Für die Sozialberatung in den Kommunen sowie die
gesamte Projektförderung sollen künftig nur noch 8 Millionen Euro zur Verfügung
stehen – statt 13 Millionen Euro wie noch 2025. Das hätte dramatische Folgen für
die Integrationsprojekte im Land sowie für die Beratung und Begleitung
Geflüchteter und damit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das ist umso
widersinniger in einem überaltertem Bundesland wie Thüringen, das auf Migration
und gelungene Integration so dringend angewiesen ist.
Nicht nur vor diesem Hintergrund haben Kürzungen und veränderte
Förderschwerpunkte auf Bundes- und Europaebene drastische Auswirkungen, so dass
beispielsweise Beratungs- und Therapieangebote von refugio thüringen e.V. zu
einem großen Teil vor dem Aus stehen.
Das Land muss hier in die Ausfallfinanzierung gehen und dieses so wichtige
Angebot in Thüringen erhalten.
Statt sich diesen dringenden Problemen in der Migrations- und
Integrationspolitik zu widmen, setzt die Brombeerkoalition auf ausgrenzende und
falsche Symbolpolitik – etwa mit dem Aufbau einer eigenen Abschiebehaft, die
nicht nur teuer, sondern auch unnötig ist, da nur ein Bruchteil der
Abschiebungen am Widerstand der Betroffenen scheitern.
Die aktuellen Debatten rund um das Grundrecht auf Asyl und die Einschränkung von
Menschenrechten sorgen in Thüringen für Angst und große Unruhe unter den
Betroffenen und den in der Flüchtlingshilfe und Beratung Engagierten. Viele
Geflüchtete haben zudem Angst vor Übergriffen und Gewalt. Dazu tragen auch
rassistische Narrative bei, die immer breiter ungeprüft in die Öffentlichkeit
getragen und verbreitet werden.
Wir Bündnisgrünen in Thüringen sind hervorgegangen aus der Bürgerrechtsbewegung
in der DDR. Viele von uns eint die Erfahrung geschlossener tödlicher Grenzen.
Wir wissen: Kein Mensch flieht freiwillig.
Wir stehen ohne wenn und aber für eine menschenrechtsbasierte Politik, die die
Würde jedes Menschen achtet.
Uns ist bewusst, dass Integration keine Einbahnstraße, sondern ein Prozess ist,
der Zeit, Geld, Ressourcen und vor allem aber Menschen braucht, die sich dafür
stark machen und nicht gewillt sind, Hass und Hetze die Oberhand oder die Hoheit
über die Stammtische gewinnen zu lassen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen danken all denen, die sich vor Ort für gelebte
Integration einsetzen, die Zugänge schaffen, Spurwechsel ermöglichen und das
Miteinander stärken. Wir unterstützen zudem Initiativen wie die Seebrücke, die
den Umtausch von Gutscheinen organisieren,so Solidarität praktisch erfahrbar
machen und geflüchteten Menschen Handlungsspielräume und ein kleines Stück
Selbstbestimmung ermöglichen.